Urteil des Gerichtshofs vom 17. Oktober 2017 in der Rechtssache C-194/16, Bolagsupplysningen OÜ und Frau Ingrid Ilsjan gegen Svensk Handel AB –  Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV (oberster Gerichtshof in Estland) – Verletzung von Rechten im Internet

Folgende Themen standen im Mittelpunkt der Entscheidung: Besondere Zuständigkeit für Verfahren die eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung zum Gegenstand haben; Verletzung von Rechten einer juristischen Person durch die Veröffentlichung von als unrichtig gerügten Angaben über sie im Internet und durch das Unterlassen der Entfernung sie betreffender Kommentare; Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs; Mittelpunkt der Interessen dieser Person.

Sachverhalt

B, eine Gesellschaft estnischen Rechts, und Frau I, eine Angestellte dieser Gesellschaft haben gegen Svensk Handel, eine Gesellschaft schwedischen Rechts in der Arbeitgeber des Handelssektors zusammengeschlossen sind, vor dem erstinstanzlichen estnischen Gericht geklagt. Svensk Handel hätte die Firma B in einer sogenannten „schwarzen Liste“ geführt, mit dem Hinweis diese betreibe Betrug und Gaunerei. Auf der Webseite von Svenska Handel würden darüber hinaus im Diskussionsforum direkte Aufrufe zur Gewalt gegen B und ihre Mitarbeiter veröffentlicht. Dadurch würden die wirtschaftlichen Aktivitäten von B in Schweden schwer behindert bzw. lahmgelegt, wodurch ihr ein erheblicher materieller Schaden entstanden sei.

B und I beantragten, Svenska Handel zu verurteilen, die veröffentlichten unrichtigen Angaben richtigzustellen, die vorhandenen Kommentare zu entfernen, 56.634,99 € Schadensersatz an B zu zahlen und Frau I einen immateriellen Schadensersatzanspruch zuzusprechen.

In einer Entscheidung vom 1. Oktober 2015 erklärte das erstinstanzliche estnische Gericht die Klage für unzulässig. Art. 7 Nr.  2 der EU- Verordnung Nr. 1215/2012 könne nicht angewendet werden. Art. 7 Nr. 2 der EU-Verordnung Nr.  1215/2012 bestimmt folgendes:

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden
1. …
2. Wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht;
…. „

Als Begründung gab das erstinstanzliche estnische Gericht an, dass aus der Klageschrift nicht hervorgehe, dass der Schaden in Estland eingetreten sei.

Die beiden Klägerinnen legten gegen die Entscheidung des erstinstanzlichen estnischen Gerichts Rechtsmittel ein. Das zuständige estnische Bezirksgericht wies das Rechtsmittel zurück und bestätigte die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts.

Daraufhin riefen die Klägerinnen den estnischen Obersten Gerichtshof an.

Dieser unterschied zwischen dem Rechtsbehelf der estnischen Firma B und dem Rechtsbehelf von Frau I. Der Antrag von Frau I (natürliche Person) sei begründet, sodass der Beschluss des zweitinstanzlichen Gerichts  und der Beschluss des erstinstanzlichen Gerichts aufzuheben seien und die Sache zur Entscheidung an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen sei.

Was die von B erhobene Klage betrifft, so seien die estnischen Gerichte zumindest für den Ersatz des in Estland entstandenen Schadens zuständig.

Zwar habe der europäische Gerichtshof bereits entschieden, dass “ eine Beeinträchtigung des Ansehens und der Wertschätzung einer juristischen Person durch eine ehrverletzende Veröffentlichung an den Orten verwirklicht werde, an denen die Veröffentlichung verbreitet werde und das Ansehen des Betroffenen nach dessen Behauptung beeinträchtigt worden sein“ (Urteil vom 7. März 1995, Shevill u.a., C-68/93)

Nach Auffassung des estnischen Obersten Gerichtshofs, als vorlegendem Gericht, sei jedoch nicht klar, ob die Richtigstellung der unrichtigen Angaben und die Entfernung der Kommentare vor einem estnischen Gericht geltend gemacht werden können.

Ebenso stelle sich die Frage, ob B den Ersatz des gesamten ihr entstandenen Schadens von den estnischen Gerichten einklagen könne.  Es stehe nicht fest, ob die bisherige Rechtsprechung wonach eine natürlich Person, die sich  durch im Internet veröffentlichte Inhalte in ihren Rechten verletzt fühle, entweder bei den Gerichten eines Mitgliedstaats klagen könne, in dem der Urheber dieser Inhalte niedergelassen sei, oder bei den Gerichten bis Mitgliedstaats, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Interessen befinde, auch für juristische Personen gelte.

Vorlagefragen

1. Der oberste Gerichtshof in Estland hat deshalb entschieden das nationale Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen 1. Ist Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass eine Person, deren Rechte durch die Veröffentlichung unrichtiger Angaben über sie im Internet und durch das Unterlassen der Entfernung sie betreffender Kommentare verletzt worden sein sollen, vor den Gerichten jedes Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die im Internet veröffentlichten Informationen zugänglich sind oder waren, hinsichtlich des in diesem Mitgliedstaat entstandenen Schadens eine Klage auf Richtigstellung der unrichtigen Angaben und Entfernung der ihre Rechte verletzenden Kommentare erheben kann?

2. Ist Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass eine juristische Person, deren Rechte durch die Veröffentlichung unrichtiger Angaben im Internet und durch das Unterlassen der Entfernung sie betreffender Kommentare verletzt worden sein sollen, die Ansprüche auf Richtigstellung der Angaben, Verpflichtung zur Entfernung der Kommentare und Ersatz des durch die Veröffentlichung der unrichtigen Angaben im Internet entstandenen materiellen Schadens hinsichtlich des gesamten ihr entstandenen Schadens bei den Gerichten des Staates geltend machen kann, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Interessen befindet?

3. Wird die zweite Frage bejaht, ist dann Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass

–        davon auszugehen ist, dass der Mittelpunkt der Interessen einer juristischen Person und damit der Ort der Entstehung ihres Schadens in dem Mitgliedstaat liegt, in dem sich ihr Sitz befindet, oder

–        bei der Bestimmung des Mittelpunkts der Interessen der juristischen Person und damit des Ortes der Entstehung ihres Schadens sämtliche Umstände zu berücksichtigen sind, wie etwa der Sitz und die Betriebsstätte der juristischen Person, der Sitz ihrer Kunden und die Art und Weise, in der die Geschäfte abgeschlossen werden?“

Entscheidung des Gerichtshofs (Große Kammer

1. Art. 7 Nr. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass eine juristische Person, deren Persönlichkeitsrechte durch die Veröffentlichung unrichtiger Angaben über sie im Internet und durch das Unterlassen der Entfernung sie betreffender Kommentare verletzt worden sein sollen, Klage auf Richtigstellung der Angaben, auf Verpflichtung zur Entfernung der Kommentare und auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens bei den Gerichten des Mitgliedstaats erheben kann, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Interessen befindet.

Übt die betreffende juristische Person den größten Teil ihrer Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres satzungsmäßigen Sitzes aus, kann sie den mutmaßlichen Urheber der Verletzung unter Anknüpfung an den Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs in diesem anderen Mitgliedstaat verklagen.

2. Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 ist dahin auszulegen, dass eine Person, deren Persönlichkeitsrechte durch die Veröffentlichung unrichtiger Angaben über sie im Internet und durch das Unterlassen der Entfernung sie betreffender Kommentare verletzt worden sein sollen, nicht vor den Gerichten jedes Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die im Internet veröffentlichten Informationen zugänglich sind oder waren, eine Klage auf Richtigstellung der Angaben und Entfernung der Kommentare erheben kann.

 

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