Anwalt Frankreich EU-Recht | EuGH: Gerichtsstand bei nachträglichem Umzug in die Schweiz (Lugano-II- Übereinkomen)

„Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des am 30. Oktober 2007 in Lugano unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, dessen Abschluss im Namen der Europäischen Gemeinschaft mit dem Beschluss 2009/430/EG des Rates vom 27. November 2008 genehmigt wurde, ist dahin auszulegen, dass diese Vorschrift die Zuständigkeit für den Fall bestimmt, dass der beruflich oder gewerblich Handelnde und der Verbraucher, die Parteien eines Verbrauchervertrags sind, zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses in demselben durch das Übereinkommen gebundenen Staat ansässig waren und ein Auslandsbezug des Rechtsverhältnisses erst nach dem genannten Vertragsschluss aufgrund dessen entstanden ist, dass der Verbraucher seinen Wohnsitz später in einen anderen durch das Übereinkommen gebundenen Staat verlegt hat.“

Das hat der Gerichtshof am 30.9.2021 in der Rechtssache C-296/20 entschieden.

Ausgangspunkt war folgender Fall: E.O. hat im Jahr 2009 ein Bankkonto bei der Commerzbank in Dresden eröffnet, wo er damals auch wohnte. 2014 verzog er in die Schweiz. Das Bankkonto, welches E.O. 2015 kündigen wollte, wies einen Saldo zugunsten der Commerzbank von 4 856 € auf. Im November 2016 erhob die Commerzbank Zahlungsklage vor dem Amtsgericht Dresden. Dieses wies die Klage wegen Unzuständigkeit ab. Das Berufungsgericht bestätigte das erstinstanzliche Urteil. Die Commerzbank legte Revision ein.

Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Lugano‑II-Übereinkommens dahin auszulegen, dass das „Ausüben“ einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit in dem durch das Übereinkommen gebundenen Staat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, schon bei Vertragsanbahnung und Vertragsschluss eine grenzüberschreitende Betätigung des Vertragspartners des Verbrauchers voraussetzt, oder ist die Vorschrift auch dann anzuwenden, um das zuständige Gericht für eine Klage zu bestimmen, wenn die Vertragsparteien bei Vertragsschluss ihren Wohnsitz im Sinne von Art. 59 und 60 des Lugano‑II-Übereinkommens in demselben durch das Übereinkommen gebundenen Staat hatten und ein Auslandsbezug des Rechtsverhältnisses erst nachträglich dadurch entstanden ist, dass der Verbraucher später in einen anderen durch das Übereinkommen gebundenen Staat umgezogen ist?

2.      Sofern eine grenzüberschreitende Betätigung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht notwendig ist:

Schließt Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Lugano‑II-Übereinkommens in Verbindung mit Art. 16 Abs. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens die Bestimmung des zuständigen Gerichts nach Art. 5 Nr. 1 des Lugano‑II-Übereinkommens generell aus, wenn der Verbraucher zwischen Vertragsschluss und Klageerhebung in einen anderen durch das Übereinkommen gebundenen Staat gezogen ist, oder ist zusätzlich erforderlich, dass der Vertragspartner des Verbrauchers seine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit auch in dem neuen Wohnsitzstaat ausübt oder sie darauf ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt?

Anwalt Frankreich Europarecht | Gerichtshof der Europäischen Union: Rechtsprechungsübersicht Dezember 2017

Eine Auswahl von Urteilen des Gerichtshofes Dezember 2017

Rechtssache C‑42/17, Urteil vom 5.12.2107 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien)

Thema:  Strafverfahren wegen Mehrwertsteuerstraftaten – Nationale Regelung mit Verjährungsfristen, die die Straflosigkeit der Straftaten zur Folge haben können – Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Europäischen Union – Pflicht, jede Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, die die unionsrechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann, unangewendet zu lassen – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen.

Urteilstenor: Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV ist dahin auszulegen, dass die nationalen Gerichte verpflichtet sind, im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Mehrwertsteuerstraftaten innerstaatliche Verjährungsvorschriften, die zum nationalen materiellen Recht gehören und der Verhängung wirksamer und abschreckender strafrechtlicher Sanktionen in einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteten schweren Betrugsfällen entgegenstehen oder für schwere Betrugsfälle zum Nachteil der Weiter lesen

EuGH vom 7.2.2013: Gerichtsstandsklauseln in Kettenverträgen

Fotolia_55418835_XS_competenceGerichtsstandsklauseln in Kettenverträgen: Rechtsprechung des EuGH

Können Gerichtsstandsklauseln, welche zwischen in verschiedenen Mitgliedsstaaten ansässigen Parteien vereinbart wurden  einem späteren Erwerber entgegengehalten werden?

Diese Frage hat der französische Kassationsgerichtshof mit Urteil vom 17.11.2011  dem Europäischen Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gestellt.

Der EuGH hat darauf mit nein geantwortet (Urteil vom 7.2.2013, Refcomp SpA c/ Axa u.a. Rechtssache C-543/10):  „Art. 23 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass eine in dem Vertrag zwischen dem Hersteller eines Gegenstands und dem Erwerber vereinbarte Gerichtsstandsklausel dem späteren Erwerber, der diesen Gegenstand am Ende einer Kette von das Eigentum übertragenden Verträgen, die zwischen in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässigen Parteien geschlossen wurden, erworben hat und eine Haftungsklage gegen den Hersteller erheben möchte, nicht entgegengehalten werden kann, es sei denn, es steht fest, dass dieser Dritte der Klausel unter den in diesem Artikel genannten Bedingungen tatsächlich zugestimmt hat.“

Die Entscheidung des EuGH entspricht seiner bisherigen Rechtsprechung zu  Art. 5 1) EuGVO. Der Gerichtshof hat danach nie zugelassen, dass ein zwischen zwei Personen geschlossener Vertrag Wirkungen auf dritte Personen habe könnte, es sei denn diese haben dem Vertrag tatsächlich zugestimmt (EuGH vom 17. Juni 1992, Handte / TMCS, Rechtssache C-26/91). Eine etwas andere Lösung hat der  EuGH lediglich für den Fall angenommen hat, dass es um ein Konnossement (Seefrachtbrief) geht (EuGH vom 19. Juni 1984, Tilly Russ/Nova, Rechtssache C-71/83; EuGH vom 9.11.200, Coreck Maritime, Rechtssache C-387/98).

Die Rechtsprechung des EuGH steht damit im Gegensatz zur Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofes, die dieser für rein nationale Sachverhalte entwickelt hat. Der französische Kassationsgerichtshof  hat in der Tat bereits mehrere Male entschieden, dass ein Vertrag welcher die Übertragung von Eigentum zum Ziel hat gewisse Wirkungen auch auf spätere Erwerber haben kann. So hat er z.B. entschieden, dass eine Schiedsgerichtsklausel  in einem Kettenvertrag auch auf spätere Erwerber übergehen und Wirkungen entfaltet, selbst wenn diese dem Vertrag nicht zugestimmt haben (Civ. 1re, 22 mars 2007, Bull. civ. I, n° 129).