
Anwendbares Recht nach der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I-Verordnung)
Die Rom I-Verordnung bildet seit ihrem Inkrafttreten am 17.12.2009 das zentrale unionsrechtliche Instrument zur Bestimmung des auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendenden Rechts. Sie löste das frühere EVÜ (Übereinkommen von Rom 1980) ab und gilt in sämtlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme von Dänemark.
Die Verordnung regelt nicht die internationale Zuständigkeit oder die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen (siehe hierzu die Verordnung Nr. 1215/2012 = Brüssel Ia-Verordnung), sondern ausschließlich die Kollisionsnormen für Vertragsverhältnisse.
1. Allgemeiner Anwendungsbereich
Nach Art.1 Abs.1 erfasst die Rom I-Verordnung vertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen, gilt jedoch insb. nicht für Steuer- und Zollsachen sowie für verwaltungsrechtliche Angelegenheiten. Der Anwendungsbereich ist damit relativ weit, Ausnahmen sind in Art.1 Abs.2–4 geregelt. Danach sind vom Anwendungsbereich insb. ausgenommen:
- Fragen des Personenstands und der Rechts-, Geschäfts- und Handlungsfähigkeit von natürlichen Personen
- Schuldverhältnisse aus einem Familienverhältnis und aus ehelichen Güterständen
- Verpflichtungen aus Wechseln, Schecks
- Schieds- und Gerichtsstandsvereinbarungen
- Fragen des Gesellschafts- und Vereinsrechts und des Rechts der juristischen Personen
- Fragen das Vertretungsrecht betreffend
- Trusts
- Schuldverhältnisse vor Abschluss eines Vertrages. Diese fallen unter Artikel 12 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 über das auf aussergerichtliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II-Verordnung) = Schulden bei Vertragsschluss
- Bestimmte Versicherungsverträge
- Beweis- und Verfahrensrecht (mit Ausnahme von Art. 18 der Rom I-Verordnung)
2. Prinzip der Parteiautonomie
Das Grundprinzip der Rom I-Verordnung ist die Parteiautonomie gemäß Art.3. Parteien eines Vertrags können frei das auf ihren Vertrag anwendbare Recht wählen. Diese Wahl kann ausdrücklich erfolgen oder sich eindeutig aus den Vertragsbestimmungen oder den Umständen des Falls ergeben. Die Rechtswahl kann sich auf den ganzen Vertrag oder nur auf bestimmte Teile davon beziehen.
Der Wahl sind jedoch Schranken gesetzt: Sie darf nicht zur Umgehung zwingender Normen führen und unterliegt in bestimmten Vertragsarten (z.B. Verbraucherschutz, Arbeitsrecht) Einschränkungen zugunsten der schwächeren Partei.
Wird keine Rechtswahl getroffen, greifen die objektiven Anknüpfungsregeln der Art.4 ff. Rom I-Verordnung.
3. Objektive Anknüpfungsregeln (Art.4 Rom I-Verordnung)
Wurde zwischen den Parteien keine Rechtswahl getroffen, bestimmt sich das anwendbare Recht nach objektiven Regeln.
Art.4 Abs.1 a) – h) benennt spezifische Vertragstypen mit typisierten Anknüpfungen, wie beispielsweise die in der Praxis wichtigsten Fallgruppen:
- Kaufverträge über bewegliche Sachen: Anwendbares Recht ist das Recht des Staates, in dem der Verkäufer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 4 Abs. 1 a)
- Dienstleistungsverträge unterliegen dem Recht des Staates, in dem der Dienstleister seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art.4 Abs. 1 b)
Art.4 Abs.2 ordnet im Übrigen das Recht des Staates an (für den Fall, dass der Vertrag nicht unter Art. Abs. 1 fällt) in dem die Partei, die die charakteristische Leistung erbringt, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Art.4 Abs.3 erlaubt in Ausnahmefällen die Anknüpfung an ein anderes Recht, wenn der Vertrag offensichtlich eine engere Verbindung zu diesem aufweist.
Art.4 Abs.4 dient als Auffangnorm, falls keine eindeutige Bestimmung möglich ist. In diesem Fall ist das Recht des Staates anzuwenden, zu dem der Vertrag die engste Verbindung aufweist.
4. Besondere Vertragsarten
Die Rom I-Verordnung enthält für bestimmte Vertragstypen Sonderregeln, die den Schutz schwächerer Parteien sicherstellen.
- Beförderungsverträge (Art. 5 Rom I-Verordnung)
- Verbraucherverträge (Art.6 Rom I-Verordnung)
Ein Verbrauchervertrag ist ein Vertrag, der zwischen einer natürlichen Person, der ihr nicht beruflich oder gewerblich zugerechnet werden kann mit einer anderen Person, die beruflich oder gewerblich handelt, geschlossen wurde. In diesem Fall findet grundsätzlich das Recht des Staates Anwendung, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sofern der Unternehmer seine Tätigkeit in diesem Staat ausübt bzw. seine Tätigkeit auf irgendeine Weise auf diesen Staat ausrichtet.
Zum Schutz der Verbraucher schreibt Art.6 vor, dass die Parteien zwar eine Rechtswahl gem. Art. 3 Rom I-Verordnung treffen können, diese aber nicht dazu führen darf, dass dem Verbraucher der Schutz zwingender Bestimmungen des Rechts seines gewöhnlichen Aufenthalts entzogen wird, sofern der Unternehmer seine Tätigkeit auf diesen Staat ausrichtet. Dies entspricht dem Schutzzweck des europäischen Verbraucherschutzrechts und verhindert missbräuchliche Rechtswahlklauseln.
- Versicherungsverträge (Art. 7 Rom I-Verordnung)
Artikel 7 unterscheidet bei der Frage, welches Recht auf einen Versicherungsvertrag Anwendung findet insbesondere zwischen
- Versicherungsverträgen für Grossrisiken (z. B. industrielle Risiken, große Transport- oder Luftfahrtversicherungen). In diesem Fall besteht weitgehende Parteiautonomie: Die Parteien können das anwendbare Recht frei wählen. Fehlt eine Rechtswahl, gelten die allgemeinen Regeln (insb. Art. 4 Rom I-Verordnung)
und
- anderen Versicherungsverträgen (vor allem Verbraucher- und Pflichtversicherungen), bei denen die Wahlmöglichkeiten eingeschränkt sind, um den Versicherungsnehmer zu schützen.
Möglich ist meist die Wahl des Rechts des Mitgliedstaats, in dem das Risiko belegen ist, oder des Mitgliedstaats, in dem der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Nationale Vorschriften zum Schutz des Versicherungsnehmers (z. B. bei Pflichtversicherungen, Kraftfahrzeug-Haftpflicht, Sozialversicherungen) dürfen nicht durch Rechtswahl umgangen werden.
- Individualarbeitsverträge (Art.8 Rom I-Verordnung)
Ein Arbeitsvertrag unterliegt dem von den Parteien gewählten Recht, aber die Wahl darf nicht dazu führen, dass der Arbeitnehmer den Schutz verliert, den er durch zwingende Vorschriften des Rechts genießt, das ohne Rechtswahl anzuwenden wäre. Es gilt damit das Prinzip der zwingenden Mindeststandards – eine Rechtswahl ist möglich, aber nicht zur Umgehung von Arbeitnehmerschutz.
Haben die Vertragsparteien, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, keine Rechtswahl getroffen, unterliegt der Vertrag dem Recht des Staates, in dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Vorübergehende Entsendungen in ein anderes Land daran nichts (Art. 8 Abs. 2 Rom I-Verordnung)
Falls kein gewöhnlicher Arbeitsort festgestellt werden kann, gilt das Recht des Staates, in dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat (Art. 8 Abs. 3 Rom I-Verordnung)
Ergibt sich aus allen Umständen eine engere Verbindung mit einem anderen Staat, so ist das Recht dieses Staates maßgebend (Art. 8 Abs. Rom I-Verordnung)
Art. 8 wird von dem Gedanken getragen, dass der Arbeitnehmer/die Arbeitnehmerin als „schwächere Partei“ geschützt werden müssen.
5. Zwingendes Recht und Eingriffsnormen
Eine wesentliche Einschränkung der Parteiautonomie stellen zwingende Vorschriften dar.
- Art. 9 Rom I-Verordnung regelt die Eingriffsnormen. Das sind Normen, deren Einhaltung ein Staat unabhängig vom anwendbaren Recht für die Wahrung seines öffentlichen Interesses für entscheidend hält.
- Art.21 Rom I-Verordnung ergänzt dies durch den ordre public-Vorbehalt: Eine Norm des fremden Rechts wird nicht angewendet, wenn ihr Ergebnis offensichtlich mit den Grundwerten der eigenen Rechtsordnung unvereinbar ist.
Diese Instrumente sichern die Einhaltung fundamentaler Rechtsprinzipien und ermöglichen den Mitgliedstaaten, ihre elementaren Interessen zu wahren.
6. Einigung und materielle Wirksamkeit
Gem. Art. 10 Abs. 1 Rom I-Verordnung richtet sich das Zustandekommen und die Wirksamkeit eines geschlossenen Vertrages oder einer seiner Bestimmungen nach dem Recht des Staates, welches nach den Regeln der Rom I-Verordnung anzuwenden wäre, wenn der Vertrag bzw. die Bestimmung wirksam wären.
Sollten die Umstände ergeben, dass eine Beurteilung des anzuwendenden Rechts nach Abs. 1 für eine Partei nicht gerechtfertigt ist, so kann sich die Partei für die Frage der Zustimmung zum Vertrag auf das Recht des Staates ihres gewöhnlichen Aufenthalts berufen (Art. 10 Abs. 2 Rom I-Verordnung).
7. Formfragen und Materiellrechtliche Fragen
Art. 11 Rom I-Verordnung erleichtert die Formgültigkeit von Verträgen, indem sie eine Alternativanknüpfung erlaubt: Ein Vertrag ist formwirksam, wenn er entweder die Formerfordernisse des Rechts am Abschlussort (Recht des Ortes/Staates des Vertragsschlusses) oder des gewählten Rechts (Recht des Vertragsstatuts) erfüllt.
Verträge, die Rechte an einem Grundstück oder an seiner Nutzung zum Gegenstand haben, unterliegen zwingend den Formerfordernissen des Rechts des Staates, in dem das Grundstück belegen ist („lex rei sitae“), Art. 11 Abs. 5 Rom I-Verordnung.
Für die Form von Verbraucherverträgen nach Art. 6 Rom I-Verordnung gelten die Formerfordernisse des Rechts des Staates, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er die dortigen Formerfordernisse erfüllt.
Materiellrechtlich erstreckt sich das anwendbare Recht nach Art. 12 Rom I-Verordnung auf Fragen
- der Auslegung des Vertrages,
- der Erfüllung der Vertragspflichten,
- die Folgen der Nichterfüllung der Vertragspflichten,
- die verschiedenen Arten des Erlöschens dieser Verpflichtungen, sowie Fragen die Verjährung betreffenden und die Rechtsverluste, die sich aus dem Ablauf von Fristen ergeben,
- die Folgen der Nichtigkeit eines Vertrages
8. Gewöhnlicher Aufenthalt
Art. 19 definiert den für die Rom I-Verordnung zentralen Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“.
Für Gesellschaften, Vereine und juristische Personen ist es der Ort ihrer Hauptverwaltung.
Für natürliche Personen, die beruflich tätig sind, ist der Ort der Hauptniederlassung.
Wird der Vertrag im Rahmen des Betriebs einer Zweigniederlassung, Agentur oder sonstigen Niederlassung geschlossen oder ist für die Erfüllung verantwortlich, so ist des der Ort der jeweiligen Niederlassungen.
7. Verhältnis zu anderen Rechtsinstrumenten
Die Rom I-Verordnung ist Teil eines Gesamtsystems des europäischen Internationalen Privatrechts.
Sie steht in engem Zusammenhang mit der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II-Verordnung) sowie der Verordnung Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel Ia-Verordnung) Außerdem verweist sie auf internationale Übereinkommen, wie etwa im Transportrecht, die nach Art.25 Rom I-Verordnung Vorrang haben können.
8. Praktische Bedeutung und Rechtsprechung
In der Praxis spielt die Rom I-Verordnung im internationalen Handelsverkehr, bei grenzüberschreitenden Verbraucherverträgen im Online-Handel sowie im Arbeitsrecht eine wichtige Rolle. Die Rechtsprechung des EuGH, aber auch der nationalen Gerichte, konkretisiert laufend ihre Bestimmungen.
Sorgfältig formulierte Rechtswahlklauseln sind für international tätige Unternehmen unverzichtbar. Für Verbraucher und Arbeitnehmer bietet die Verordnung Schutz vor Rechtswahlklauseln, die ihre Rechtsstellung verschlechtern könnten.