Urteil des Gerichtshofs vom 8. März 2022 in der Rechtssache C‑205/20
Verfahrensart: Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV
Vorlegendes Gericht: Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich)
Thema: Entsendung von Arbeitnehmern – Freier Dienstleistungsverkehr – Entsendung von Arbeitnehmern – Richtlinie 2014/67/EU – Art. 20 – Sanktionen – Verhältnismäßigkeit – Unmittelbare Wirkung – Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts
Parteien: NE gegen Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld, unter Beteilung der Finanzpolizei Team 91
Sachverhalt: Die slowakische Gesellschaft CONVOI, vertreten durch NE, entsandte Arbeitnehmer an eine Gesellschaft mit Sitz in Fürstenfeld (Österreich). Im Juni 2018 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Österreich) eine Geldstrafe gegen NE in Höhe von 54 000 Euro wegen der Nichteinhaltung mehrerer im österreichischen Arbeitsrecht vorgesehener Verpflichtungen u. a. zur Aufbewahrung und Zurverfügungstellung von Lohn- und Sozialversicherungsunterlagen. NE erhob gegen dieses Straferkenntnis Beschwerde beim vorlegenden Landesverwaltungsgericht Steiermark.
Vorlagefragen des Landesverwaltungsgerichts Steiermark:
- Ist das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 festgelegte und in den Beschlüssen vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108), sowie vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1103), ausgelegte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen eine unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmung?
- Für den Fall, dass Frage 1 verneint wird: Ermöglicht und erfordert die Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts im Einklang mit dem Unionsrecht, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte und Verwaltungsbehörden die im vorliegenden Fall anzuwendenden innerstaatlichen Straftatbestände um die in den Beschlüssen des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108), sowie vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1103), festgelegten Kriterien der Verhältnismäßigkeit ergänzen, ohne dass eine neue innerstaatliche Rechtsvorschrift erlassen worden ist?
Urteilstenor/Entscheidung des Gerichtshofs der EU:
- Art. 20 der Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt‑Informationssystems („IMI-Verordnung“) hat unmittelbare Wirkung, soweit er verlangt, dass die von ihm vorgesehenen Sanktionen verhältnismäßig sind, und kann somit vom Einzelnen vor den nationalen Gerichten gegenüber einem Mitgliedstaat, der diesen Artikel unzulänglich umgesetzt hat, geltend gemacht werden.
- Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er die nationalen Behörden nur insoweit verpflichtet, eine nationale Regelung, von der ein Teil gegen das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 vorgesehene Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen verstößt, unangewendet zu lassen, als dies erforderlich ist, um die Verhängung verhältnismäßiger Sanktionen zu ermöglichen.
Urteil des Gerichtshofs vom 14. Juli 2022 in der Rechtssache C‑572/21
Verfahrensart: Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV
Vorlegendes Gericht: Högsta domstol (Oberster Gerichtshof, Schweden)
Thema: Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in einen Drittstaat , insbesondere Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 8 Abs. 1 und Art. 61 Buchst. a – Allgemeine Zuständigkeit – Grundsatz der perpetuatio fori – Im Lauf des Verfahrens erfolgte Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes von einem Mitgliedstaat der Europäischen Union in einen Drittstaat, der Vertragspartei des Haager Übereinkommens von 1996 ist“
Parteien: CC gegen VO
Sachverhalt: CC hatte für ihr im Jahr 2011 in Schweden geborenes Kind M seit der Geburt das alleinige Sorgerecht. Bis Oktober 2019 lebte M ständig in Schweden. Seit Oktober 2019 besuchte M ein Internat, das sich im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation befindet.
Im Dezember 2019 beantragte VO, der Vater von M, vor dem zuständigen Tingsrätt (erstinstanzliches Gericht, Schweden), ihm das alleinige Sorgerecht für M zu übertragen und den ständigen Aufenthaltsort von M bei ihm in Schweden anzuordnen.
CC rügte die örtliche Unzuständigkeit des schwedischen Gerichts, weil M seit Oktober 2019 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Russland habe.
Das Tingsrätt (erstinstanzliches Gericht) wies die von CC geltend gemachte Einrede der Unzuständigkeit zurück, da zum Zeitpunkt der Antragstellung im Dezember 2019 der gewöhnliche Aufenthalt von M nicht nach Russland verlegt gewesen sei. VO wurde daher im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes das alleinige Sorgerecht für M übertragen.
CC legte gegen diese Entscheidung Berufung ein. Das Hovrätt över Skåne och Blekinge (Berufungsgericht für Skåne und Blekinge mit Sitz in Malmö, Schweden) bestätigte die Entscheidung des Tingsrätt (erstinstanzliches Gericht), dass gemäß Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 die schwedischen Gerichte zuständig seien. Die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts das alleinige Sorgerecht für M zu übertragen, hob das Berufungsgericht jedoch auf.
CC wandte sich an den Högsta Domstol (Oberster Gerichtshof, Schweden), das vorlegende Gericht, und beantragte, das Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts zuzulassen. Weiterhin beantragte sie, den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen um Auslegung von Art. 61 der Verordnung Nr. 2201/2003 zu befassen. CC führte vor dem Obersten schwedischen Gerichtshof darüber hinaus aus, sie habe bei einem russischen Gericht einen das Sorgerecht für M betreffenden Antrag gestellt, welches am 20. November 2020 seine Zuständigkeit für die Entscheidung über jede die elterliche Verantwortung für M betreffende Frage erklärt.
Vorlagefrage des Högsta Domstol (Oberster schwedischer Gerichtshof) :
Bleibt die Zuständigkeit des Gerichts eines Mitgliedstaats nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestehen, wenn das Kind, um das es in dem Gerichtsverfahren geht, im Lauf des Verfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt von einem Mitgliedstaat in ein Drittland verlegt, das dem Haager Übereinkommen von 1996 beigetreten ist (vgl. Art. 61 der Verordnung)?
Urteilstenor/Entscheidung des Gerichtshofs der EU:
Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 in Verbindung mit Art. 61 Buchst. a dieser Verordnung ist dahin auszulegen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem ein die elterliche Verantwortung betreffender Rechtsstreit anhängig ist, die nach Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung bestehende Zuständigkeit für die Entscheidung über diesen Rechtsstreit nicht behält, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des betreffenden Kindes im Lauf des Verfahrens rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Drittstaats verlegt worden ist, der Vertragspartei des am 19. Oktober 1996 in Den Haag abgeschlossenen Übereinkommens über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern ist.
Urteil des Gerichtshofs vom 6. Oktober 2022 in der Rechtssache C‑436/21
Verfahrensart: Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV
Vorlegendes Gericht: Bundesgerichtshof (Deutschland)
Thema: Flug von Stuttgart nach Kansas City, insbesondere Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 3 Abs. 1 Buchst. a – Anwendungsbereich – Art. 2 Buchst. f bis h – Begriff ‚Flugschein‘ – Begriff ‚Buchung‘ – Begriff ‚direkter Anschlussflug‘ – Buchung über ein Reisebüro – Art. 7 – Ausgleichsleistungen für Fluggäste bei großer Verspätung von Flügen – Beförderungsvorgang, der aus mehreren, von unterschiedlichen ausführenden Luftfahrtunternehmen durchgeführten Flügen besteht – Direkte Anschlussflüge mit Abflug aus einem Mitgliedstaat, Zwischenlandung in der Schweiz und Endziel in einem Drittstaat“
Parteien: flightright GmbH gegen American Airlines Inc.
Sachverhalt: Ein Fluggast kaufte über ein Reisebüro einen einheitlichen elektronischen Flugschein für eine Reise am 25. Juli 2018 über drei Flüge für die Strecke Stuttgart – Kansas City (Stuttgart – Zürich mit Swiss International Air Lines, Schweiz; Zürich – Philadelphia und von dort nach Kansas City mit American Airlines. Auf den Bordkarten für diese Flüge war die Nummer des elektronischen Flugscheins, American Airlines als Dienstleistungserbringerin angegeben, für den Flugschein gab es eine einheitliche Buchungsnummer für die gesamte Strecke und es wurde eine Rechnung mit einem Gesamtpreis für die gesamte Strecke (hin und zurück) ausgestellt.
Die Flüge von Stuttgart nach Zürich und von Zürich nach Philadelphia fanden planmäßig statt. Der Flug von Philadelphia nach Kansas City war dagegen bei der Ankunft um mehr als vier Stunden verspätet.
Die durch diese Verspätung entstandenen Ansprüche wurden vom Fluggast an die Firma flightright abgetreten. Diese klagt vor den deutschen Gerichten gegen American Airlines auf eine Ausgleichszahlung von 600 Euro nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004. Die Klage wurde im ersten Rechtszug abgewiesen, auch die Berufung vor dem Landgericht Stuttgart (Deutschland) blieb erfolglos. Das Landgericht war der Auffassung, American Airlines sei nicht als ausführendes Luftfahrtunternehmen eines Fluges aus dem Gebiet eines Mitgliedstaats anzusehen, so dass die Verordnung Nr. 261/2004 ihr gegenüber nicht anwendbar sei und sie nach dieser Verordnung keine Ausgleichszahlung schulde. Gegen das Urteil des Berufungsinstanz legte die Firma flightright Revision beim Bundesgerichtshof (Deutschland), ein, nach dessen Ansicht der Ausgang des Rechtsstreits von der Auslegung der Art. 2, 3 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 sowie gegebenenfalls des Abkommens EG–Schweiz abhängt.
Vorlagefragen des Bundesgerichtshofs :
- Liegen direkte Anschlussflüge im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Verordnung Nr. 261/2004 schon dann vor, wenn ein Reisebüro Teilflüge von unterschiedlichen Luftfahrtunternehmen zu einem Beförderungsvorgang zusammenfasst, dem Fluggast hierfür einen Gesamtpreis in Rechnung stellt und ein einheitliches elektronisches Ticket ausgibt, oder bedarf es darüber hinaus einer besonderen rechtlichen Beziehung zwischen den ausführenden Luftfahrtunternehmen?
- Für den Fall, dass es einer besonderen rechtlichen Beziehung zwischen den ausführenden Luftfahrtunternehmen bedarf: Reicht es aus, wenn in einer Buchung der in Frage 1 beschriebenen Art zwei aufeinanderfolgende Teilflüge zusammengefasst sind, die von demselben Luftfahrtunternehmen auszuführen sind?
- Für den Fall, dass Frage 2 bejaht wird: Sind Art. 2 des Abkommens EG–Schweiz und die in dessen Anhang eingefügte Bezugnahme auf die Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass die Verordnung auch für Fluggäste gilt, die auf Flughäfen im Gebiet der Schweiz einen Flug in ein Drittland antreten?
Urteilstenor/Entscheidung des Gerichtshofs der EU:
Art. 2 Buchst. h der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass der Begriff „direkte Anschlussflüge“ einen Beförderungsvorgang erfasst, der aus mehreren Flügen besteht, die von unterschiedlichen, nicht durch eine besondere rechtliche Beziehung miteinander verbundenen ausführenden Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden, wenn diese Flüge von einem Reisebüro zusammengefasst wurden, das für diesen Vorgang einen Gesamtpreis in Rechnung gestellt und einen einheitlichen Flugschein ausgegeben hat, so dass einem Fluggast, der auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats einen Flug angetreten hat und bei der Ankunft am Zielort des letzten Fluges mit großer Verspätung gelandet ist, der Ausgleichsanspruch nach Art. 7 dieser Verordnung zusteht.