Ausgewählte Urteile des Gerichtshofes der Europäischen Union


Verfahrensart: Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV

Vorlegendes Gericht: Tribunale di Lecce (Italien)

Thema: Sozialpolitik – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 – Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Finanzielle Vergütung für nicht genommenen Jahresurlaub, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses gezahlt wird – Nationale Regelung, die die Zahlung dieser Vergütung verbietet, wenn ein im öffentlichen Dienst beschäftigter Arbeitnehmer auf eigenen Wunsch aus dem Dienst ausscheidet – Eindämmung der öffentlichen Ausgaben – Organisatorische Erfordernisse des öffentlichen Arbeitgebers“

Parteien: BU gegen Comune di Copertino

Sachverhalt: Ein im öffentlichen Dienst tätiger Arbeitnehmer war von Februar 1992 bis Oktober 2016 als Verwaltungsleiter bei der italienischen Gemeinde Copertino beschäftigt. Er schied freiwillig aus dem Dienst aus, um in den vorzeitigen Ruhestand einzutreten. Für 79 nicht genommen Urlaubstage verlangte er eine finanzielle Vergütung. Die Gemeinde Copertino verwarf dieses Verlangen auf der Grundlage von italienischen Rechtsvorschriften, wonach die im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeitnehmer anstelle des bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs in keinem Fall Anspruch auf eine finanzielle Vergütung haben. Dagegen wandte sich der Arbeitnehmer.

Vorlagefragen des Tribunale de Lecce:

  1. Sind Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen (d. h. Art. 5 Abs. 8 des Decreto-legge Nr. 95) entgegenstehen, die zugunsten der Eindämmung öffentlicher Ausgaben sowie wegen organisatorischer Erfordernisse des öffentlichen Arbeitgebers ein Urlaubsabgeltungsverbot im Fall der Eigenkündigung eines im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeitnehmers vorsieht?
  • Sind, falls die erste Vorlagefrage bejaht wird, Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31

Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass ein Beschäftigter des öffentlichen Dienstes nachweisen muss, dass es ihm nicht möglich war, den Urlaub während des laufenden Arbeitsverhältnisses in Anspruch zu nehmen?

Urteilstenor/Entscheidung des Gerichtshofs der EU:

Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die zugunsten der Eindämmung öffentlicher Ausgaben sowie wegen organisatorischer Erfordernisse des öffentlichen Arbeitgebers das Verbot vorsehen, dem Arbeitnehmer eine finanzielle Vergütung für sowohl im letzten Jahr der Beschäftigung als auch in den Vorjahren erworbenen, zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub zu zahlen, wenn der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis auf eigenen Wunsch beendet und nicht nachgewiesen hat, dass er den Urlaub aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen nicht während des Arbeitsverhältnisses genommen hat.


Verfahrensart: Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV

Vorlegendes Gericht: Bundesgerichtshof (Deutschland)

Thema: Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 3 Abs. 2 Buchst. a – Art. 5 Abs. 1 – Art. 7 Abs. 1 – Ausgleichszahlungen für Fluggäste bei großer Verspätung von Flügen – Erfordernis des rechtzeitigen Einfindens zur

Parteien: Laudamotion GmbH gegen flightright GmbH

(und für die Rechtssache C-54/23 C-WY gegen Laudamotion GmbH, Ryanair DAC)

Sachverhalt: Für zwei Flüge der Fluggesellschaft Laudamotion von Düsseldorf nach Palma de Mallorca wurde eine Verspätung  von mehr als drei Stunden angekündigt. Zwei Fluggäste beschlossen, den Flug nicht anzutreten, da sie befürchteten, dass sie durch die Verspätung des von ihnen gebuchten Fluges einen Geschäftstermin verpassen würden. Der Flug des ersten Fluggasts kam tatsächlich mit drei Stunden und 32 Minuten Verspätung an. Der zweite Fluggast buchte selbst einen Ersatzflug, dank dessen er den Zielort mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber dem ursprünglichen Flug erreichte. Die Fluggesellschaft verweigerte die Ausgleichszahlungen, die grundsätzlich bei großer Verspätung vorgesehen sind.  

Vorlagefragen des Bundesgerichtshofs:

  1. Setzt der Ausgleichsanspruch wegen Verspätung des Fluges von mehr als drei Stunden nach der geplanten Ankunftszeit nach den Art. 5, 6 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 voraus, dass sich der Fluggast nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung zu von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebener Zeit, spätestens jedoch 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfindet oder ist der Fall einer großen Verspätung im genannten Sinne – entsprechend dem Fall der Annullierung des Fluges – von diesem Erfordernis ausgenommen?
  • Für den Fall, dass der Ausgleichsanspruch nicht allein aufgrund des Eintretens einer großen Verspätung im genannten Sinne von dem Erfordernis des Einfindens zur Abfertigung ausgenommen ist, greift eine solche Ausnahme dann ein, wenn dem Fluggast hinreichend gesicherte Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass der Flug erst mit einer großen Verspätung im genannten Sinne ankommen wird?

Urteilstenor/Entscheidung des Gerichtshofs der EU:

Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91ist dahin auszulegen, dass ein Fluggast, um die in Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung im Fall einer großen Verspätung eines Fluges, d. h. einer Verspätung von drei Stunden oder mehr gegenüber der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit, zu erhalten, sich rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden haben muss oder, wenn er sich bereits online registriert hat, sich rechtzeitig am Flughafen bei einem Vertreter des ausführenden Luftfahrtunternehmens eingefunden haben muss.


Verfahrensart: Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV

Vorlegendes Gericht: Verwaltungsgericht Wiesbaden

Thema: Verordnung (EU) 2019/1157 – Erhöhung der Sicherheit von Personalausweisen der Bürger der Europäischen Union – Gültigkeit – Rechtsgrundlage – Art. 21 Abs. 2 AEUV – Art. 77 Abs. 3 AEUV – Verordnung (EU) 2019/1157 – Art. 3 Abs. 5 – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, in das Speichermedium von Personalausweisen zwei Fingerabdrücke in interoperablen digitalen Formaten aufzunehmen – Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Achtung des Privat- und Familienlebens – Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Schutz personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 35 – Verpflichtung zur Durchführung einer Datenschutz-Folgenabschätzung – Aufrechterhaltung der zeitlichen Wirkungen einer für ungültig erklärten Verordnung“

Sachverhalt:  Ein deutscher Staatsbürger wendet sich vor einem deutschen Gericht gegen die Weigerung der Stadt Wiesbaden, ihm einen neuen Personalausweis ohne Aufnahme seiner Fingerabdrücke auszustellen.

Vorlagefragen des Verwaltungsgerichts Wiesbaden:

Verstößt die Verpflichtung zur Aufnahme und Speicherung von Fingerabdrücken in Personalausweisen gemäß Art. 3 Abs. 5 der Verordnung 2019/1157 gegen höherrangiges Unionsrecht, insbesondere

a)      gegen Art. 77 Abs. 3 AEUV,

b)      gegen die Art. 7 und 8 der Charta,

c)      gegen Art. 35 Abs. 10 DSGVO,

und ist deshalb aus einem der Gründe ungültig?

Sind Art. 2 des Abkommens EG–Schweiz und die in dessen Anhang eingefügte Bezugnahme auf die Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass die Verordnung auch für Fluggäste gilt, die auf Flughäfen im Gebiet der Schweiz einen Flug in ein Drittland antreten?

Urteilstenor/Entscheidung des Gerichtshofs der EU:

  1. Die Verordnung (EU) 2019/1157 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise von Unionsbürgern und der Aufenthaltsdokumente, die Unionsbürgern und deren Familienangehörigen ausgestellt werden, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben, ist ungültig.
  • Die Wirkungen der Verordnung 2019/1157 werden aufrechterhalten, bis innerhalb einer angemessenen Frist, die zwei Jahre ab dem 1. Januar des auf die Verkündung des vorliegenden Urteils folgenden Jahres nicht überschreiten darf, eine neue, auf Art. 77 Abs. 3 AEUV gestützte Verordnung, die sie ersetzt, in Kraft tritt.

Verfahrensart: Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV

Vorlegendes Gericht: Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien)

Parteien: Ford Italia SpA gegen ZP, Stracciari SpA

Thema: Haftung für fehlerhafte Produkte – Richtlinie 85/374/EWG – Art. 3 Abs. 1 – Begriff ‚Hersteller‘ – Begriff „Person, die sich als Hersteller ausgibt“ – Voraussetzungen – Lieferant, dessen Name teilweise mit dem des Herstellers und der vom Hersteller auf dem Produkt angebrachten Marke übereinstimmt “ – Verbraucherschutz

Sachverhalt: Ein Verbraucher erwarb ein Auto der Marke Ford von der Vertragshändlerin Stracciari, die Fahrzeuge dieser Marke in Italien verkauft. Das Fahrzeug war von der Ford WAG, einem in Deutschland ansässigen Unternehmen, hergestellt und der Vertragshändlerin dann über Ford Italia geliefert worden, die Fahrzeuge der Marke Ford in Italien vertreibt. Der Verbraucher hatte einen Unfall, bei dem der Airbag nicht funktionierte. Daraufhin erhob er gegen die Vertragshändlerin und gegen Ford Italia Klage auf Ersatz der erlittenen Schäden, die ihm aufgrund des nicht funktionierenden Airbags entstanden sind. Ford Italia trug vor, nicht für die Fehlerhaftigkeit des Airbags zu haften, da sie das Fahrzeug nicht hergestellt habe.

Vorlagefrage des Corte suprema di cassazione:  Steht eine Auslegung, wonach die Haftung des Herstellers, auch wenn der Lieferant weder seinen Namen noch sein Warenzeichen noch ein anderes Erkennungszeichen physisch auf dem Produkt angebracht hat, auf den Lieferanten ausgedehnt wird, nur weil der Lieferant einen Namen, ein Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen hat, der bzw. das mit dem des Herstellers ganz oder teilweise übereinstimmt, mit Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 im Einklang – und wenn nicht, warum nicht?

Urteilstenor/Entscheidung des Gerichtshofs der EU: „Art 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte ist dahin auszulegen, dass der Lieferant eines fehlerhaften Produkts als „Person, die sich als Hersteller [dieses Produkts] ausgibt“, im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist, wenn dieser Lieferant zwar nicht physisch seinen Namen, sein Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen auf dem Produkt angebracht hat, wenn aber das Warenzeichen, das der Hersteller auf dem Produkt angebracht hat, zum einen mit dem Namen oder einem Erkennungszeichen des genannten Lieferanten und zum anderen mit dem Namen des Herstellers übereinstimmt.“