Die Brüssel I a-Verordnung (VO (EU) Nr. 1215/2012) regelt seit dem 10. Januar 2015 (vorher: Brüssel I-VO) innerhalb der EU, welches Gericht in Zivil- und Handelssachen international zuständig ist, wie Urteile anerkannt und vollstreckt werden.

  1. Sachlicher Anwendungsbereich der Brüssel Ia-Verordnung

Der sachliche Anwendungsbereich der Brüssel Ia-Verordnung ist in Art. 1 geregelt.

Danach finden gem. Art. 1 Abs. 1 die Regeln der Brüssel Ia-Verordnung für Zivil- und Handelssachen Anwendung. Sie gilt jedoch insb. nicht für Steuer- und Zollsachen, Verwaltungsrecht  oder im Rahmen von acta iure imperii (Haftung des Staates im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte.

Weitere Bereiche, in denen die Brüssel Ia-Verordnung nicht anzuwenden ist, sind in Art. 1 Abs. 2 geregelt, wie z.B. der Personenstand, das Güterrecht (im Rahmen des Eherechts), Insolvenzverfahren, Schiedsverfahren, Unterhaltspflichten (Familienrecht), das Erbrecht.

  • Allgemeiner Gerichtsstand (Art. 4 ff.)

Der allgemeine internationale Gerichtsstand ist in Artikel 4 geregelt.

  • Grundregel:  Der Beklagte kann an seinem Wohnsitz verklagt werden, vorbehaltlich anderer Vorschriften der Brüssel Ia-Verordnung und ohne Rücksicht auf dessen Staatsangehörigkeit
    • Natürliche Person: Ein in Paris lebender Franzose kann daher in Frankreich vor dem nach nationalem Recht sachlich und örtlich zuständigen Gericht verklagt werden. Der Begriff Wohnsitz bestimmt sich nach nationalem Recht.
    • Juristische Person → Sitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung.
  • Gilt auch bei unterschiedlicher Staatsangehörigkeit
  • Besondere Zuständigkeiten

Die sog. besonderen Zuständigkeiten ergeben sich aus den Artikeln 7 – 9 derBrüssel I a-VO. Es handelt sich um Ausnahmen vom allgemeinen Gerichtsstand des Art. 4 (Wohnsitz des Beklagten). Sie sollen vor allem eine enge Verbindung zwischen Streitgegenstand und dem angerufenen Gericht sicherstellen.

Art. 7 – Besondere Zuständigkeiten

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden …“

Art. 7 Nr. 1  – Vertragssachen

  • Art. 7 Nr. 1 a) :  Zuständig ist das Gericht des Erfüllungsorts der streitigen Verpflichtung (Ort an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre), wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden.
  • Art. 7 Nr. 1 b) :
    • Kaufvertrag über bewegliche Sachen → Erfüllungsort ist der Ort, an dem die Sachen nach Vertrag geliefert wurden oder hätten geliefert werden müssen
    • Dienstleistungsvertrag → Erfüllungsort ist der Ort, an dem die Dienstleistungen nach Vertrag erbracht wurden oder hätten erbracht werden müssen
  • Falls weder ein Kauf- noch ein Dienstleistungsvertrag vorliegen muss der Erfüllungsort nach nationalem Recht bestimm

Art. 7 Nr. 2 – Delikt / unerlaubte Handlung

  • Zuständig ist das Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht
  • Ermöglicht es dem Geschädigten, nicht nur am Wohnsitz des Schädigers gem. Art. 4 Abs. 1 zu klagen , sondern auch an einem Ort, der sachlich eng mit dem Streitfall verbunden ist.
  • Soll Beweiserleichterung bieten (Gericht ist nah am Tatort oder Schadensort).
  • EuGH-Rechtsprechung:
    • Handlungsort (Ort der schädigenden Handlung)
    • Erfolgsort (Ort, an dem der Schaden eingetreten ist)
  • Kläger hat Wahlrecht zwischen beiden Orten
  • EuGH: Die Begriffe sind autonom unionsrechtlich auszulegen, nicht nach nationalem Deliktsrecht.
  • Typische Fallgruppen
FallgruppeHandlungsortErfolgsort
VerkehrsunfallOrt des UnfallsOrt des Unfalls (idR identisch)
ProdukthaftungHerstellungsort / Ort des InverkehrbringensOrt, an dem Schaden eingetreten ist
WettbewerbsverletzungOrt der HandlungOrt, an dem Markt beeinträchtigt ist
Persönlichkeitsrechtsverletzung onlineOrt der VeröffentlichungOrt, wo Inhalt abrufbar und Ruf geschädigt ist
UmweltschädenOrt der VerursachungOrt, wo Schaden eingetreten ist
IP-Rechtsverletzung im InternetOrt des Servers oder UploadsOrt, wo Inhalte abrufbar und geschützt sind
  • Besonderheiten

Erfolgsortbegrenzung: Bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen im Internet kann der Geschädigte am Erfolgsort nur Ersatz für dort eingetretenen Schaden verlangen (Shevill-Doktrin).

Gefahr drohender Schäden: Gericht kann auch angerufen werden, wenn Schaden erst bevorsteht (z. B. Unterlassungsklagen).

Wahlrecht gilt nicht unbegrenzt**: Kläger darf nicht beliebig weit entfernte, nur lose verbundene Orte wählen.

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  • Abgrenzungen

Vertrag oder Delikt? → Wenn Pflichtverletzung aus einem Vertrag herrührt, gilt Art. 7 Nr. 1 (Vertrag) vorrangig.

Gemischte Sachverhalte → maßgeblich ist der Schwerpunkt des Rechtsgrundes.

Art. 7 Nr. 3 – Zivilklage im Strafverfahren

  • Zuständig ist das Gericht des Ortes, an dem die strafbare Handlung verfolgt wird
  • Betrifft nur Mitgliedstaaten, in denen die Verbindung von Straf- und Zivilverfahren zulässig ist.

Art. Nr. 4 – Klage auf Wiedererlangung eines Kulturgutes i.S. der Richtlinie 93/7/EWG

  • Zuständig ist das Gericht, an dem sich das Kulturgut zum Zeitpunkt der Anrufung befindet.

Art. 7 Nr. 5 – Streitigkeiten aus Niederlassungen

  • Gericht des Ortes, an dem sich die Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung befindet
  • Bezieht sich auf Streitigkeiten, die unmittelbar aus deren Betrieb resultieren.

Art. 7 Nr. 6 – Klage gegen einen Trust

  • Zuständig ist das Gericht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Trust seinen Sitz hat.

Artikel Nr. 7 – Klage im Zusammenhang mit Streitigkeiten wegen der Zahlung von Ladung- oder Frachtforderungen

Art. 8 – Gerichtsstände des Sachzusammenhangs

Allgemeine Voraussetzung: Die beklagte Person hat ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates

Art. 8 Nr. 1: Klage gegen mehrere Personen

  • Zuständig ist das Gericht des Wohnsitzes eines von ihnen, sofern zwischen den Ansprüchen ein so enger Zusammenhang besteht, dass eine gemeinsame Verhandlung zur Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen zweckmäßig ist.
  • EuGH: Zusammenhang muss rechtlich und tatsächlich eng sein.
  • EuGH-Urteil vom 13. Februar 2025 (C-393/23 – Athenian Brewery – Heineken)

Der EuGH hat die Anwendung von Art. 8 Nr. 1 Brüssel Ia-VO konkretisiert:

Eine Klage gegen eine Muttergesellschaft und deren Tochtergesellschaft kann vor dem Gericht am Sitz der Mutter erhoben werden, wenn eine wirtschaftliche Einheit besteht.

Dies erleichtert die Zuständigkeitskonzentration bei Kartellschadensersatzklagen und stärkt die Rechtssicherheit.

Art. 8 Nr. 2: Gewährleistungs- oder Interventionsklage

  • Das Gericht, bei dem die Hauptsache anhängig ist, ist auch für den Eintritt eines Dritten zuständig, mit Ausnahme, dass die Klage nur erhoben worden ist, um diese dritte Person dem für sie zuständigen Gericht zu entziehen.

Art. 8 Nr. 3: Widerklage

  • Zuständig ist das Gericht, bei dem die Hauptklage anhängig ist, vorausgesetzt sie rührt aus demselben Vertrag oder Sachverhalt her.

Art. 8 Nr. 4: Vertragsrechtliche Klage im Zusammenhang mit dinglichen Rechten an unbeweglichen Sachen gegen denselben Beklagten

  • Zuständigkeiten für Versicherungssachen

Für Klagen in Versicherungssachen bestimmen sich die Zuständigkeiten grundsätzlich nach den Regeln der Artikel 10 – 16 der Brüssel Ia-Verordnung. Es geht vorrangig um die Frage, wo ein Versicherer verklagt werden muss, aber auch darum wo der Versicherer gegen den Versicherungsnehmer klagen kann. 

  • Zuständigkeiten für Verbrauchersachen

Für Klagen in denen ein Verbraucher einen Vertrag geschlossen hat, bestimmen sich die Zuständigkeiten grundsätzlich nach den Regeln der Artikel 10 – 19 der Brüssel Ia-Verordnung.

  • Zuständigkeiten für individuelle Arbeitsverträge (Art. 20-23)

Bilden ein individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem solchen den Gegenstand des Verfahrens, richtet sich die internationale Zuständigkeit nach den Artikeln 20 – 23 der Brüssel Ia-Verordnung.

Grundsätzlich kann ein Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber nur vor den Gerichten des Staates verklagt werden, in dem Arbeitnehmer seinen Wohnsitz hat.

Der Arbeitgeber wiederum kann vom Arbeitnehmer vor den Gerichten des Staates verklagt werden, wo der Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat oder vor den Gerichten des Staates, in dem er gewöhnlich seine Arbeit verrichtete oder wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit in mehreren Staaten verrichtet hat, vor den Gerichten des Staates, in dem sich die Niederlassung, die ihn eingestellt hat, befindet.

Gerichtsstandvereinbarungen sind nach Art. 23 grundsätzlich zulässig, wenn die Vereinbarung nach der Entstehung der Streitigkeit getroffen wurde oder wenn der Arbeitnehmer die Befugnis erhält, andere als die in den Artikeln 20 – 23 angeführten Gericht anzurufen.

  •  Ausschließliche Zuständigkeiten (Art. 24)

Bestimmte Streitigkeiten dürfen nur in einem Staat verhandelt werden, z. B.:

  • Rechte an unbeweglichen Sachen → Gericht des Lageorts
  • Gesellschaftsrechtliche Fragen Gericht des Sitzstaats der Gesellschaft
  • Registereintragungen → Gericht des Registerstaats
  • Patente, Marken, Designs → Gericht des Schutzstaats
  • Zwangsvollstreckungsverfahren → Gericht des Staates, in dem die Zwangsvollstreckung durchgeführt werden soll oder worden ist.

8 . Prorogation (Gerichtsstandsvereinbarung) – Art. 25

Die Möglichkeit eine Gerichtsstandsvereinbarung gem. Art. 25 der Brüssel Ia-Verordnung zu treffen ist ein für die Praxis wichtiges Thema und hat mittlerweile auch schon zu einer umfangreichen Rechtsprechung des EuGH und der nationalen Gerichte geführt.

Eine Gerichtsstandvereinbarung nach der Brüssel Ia-Verordnung kann auch zwischen einem Unternehmen und einem Verbraucher geschlossen werden, wobei in diesem Fall jedoch die Voraussetzungen des Art. 18 vorliegen müssen.

Grundsätzlich können Vertragsparteien nach Art. 25 frei einen Gerichtsstand vereinbaren,  wenn zumindest eine Partei im Anwendungsbereich der Verordnung wohnt.

Die Gerichtsstandsvereinbarung muss geschlossen werden:

  • In Schriftform oder mündlich mit schriftlicher Bestätigung, elektronische Übermittlungen, die eine dauerhafte Aufzeichnung der Vereinbarung ermöglichen, sind der Schriftform gleichgestellt.
  • In einer Form, welche den Gewohnheiten/Gepflogenheiten zwischen den Parteien entstanden sind.
  • In einer Form, welcher im internationalen Handel einem Handelsbrauch entspricht, den die Parteien kennen oder hätten kennen müssen.

Ein Gerichtsstand hat grundsätzlich Vorrang  vor allgemeinen/besonderen Zuständigkeiten.

9. Anhängigkeit und Verfahren, die im Zusammenhang stehen (Art. 29 – 34)

  • Konkurrierende Rechtshängigkeit: Wenn bei Gerichten verschiedener Mitgliedsstaaten parallel Verfahren wegen desselben Anspruchs und zwischen denselben Parteien anhängig sind, hat das das  zuerst angerufenen Gericht Vorrang. Zuerst muss jedoch die Zuständigkeit der Gerichte geprüft werden. Steht die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts fest, erklärt sich das später angerufene Gericht für unzuständig. Damit sollen widersprüchliche Entscheidungen vermieden werden.

Wurden mehrere Gerichte, die ausschließlich zuständig sind angerufen, so muss sich das zuletzt angerufene Gericht für unzuständig erklären.

  • Die Art. 33 und 34 regeln die Situation, in dem neben einem Gericht eines Mitgliedsstaates ein drittstaatliches Gericht angerufen wurde.