Verfahrensart: Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV

Vorlegendes Gericht: Landesgericht Korneuburg (Österreich)

Thema: Entschädigung für die Unannehmlichkeiten, die sich aus der Umleitung eines Fluges zu einem Flughafen ergeben, der zwar nicht dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen entspricht, aber im selben geografischen Gebiet liegt, insbesondere

Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 6 – Verspäteter Flug – Art. 8 Abs. 3 – Umleitung eines Fluges zu einem anderen Flughafen, der denselben Ort, dieselbe Stadt oder dieselbe Region bedient – Begriff ‚Annullierung‘ – Außergewöhnliche Umstände – Ausgleichsleistungen für Fluggäste bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen bei der Ankunft – Pflicht zur Übernahme der Kosten für die Beförderung vom tatsächlichen Ankunftsflughafen zu dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen“

Parteien: WZ (Privatperson) gegen Austrian Airlines AG

Sachverhalt: Ein Fluggast von Austrian Airlines verlangt von dieser eine pauschale Ausgleichszahlung in Höhe von 250 Euro wegen der Umleitung seines Fluges Wien-Berlin. Dieser Flug landete nicht wie geplant auf dem Flughafen Berlin Tegel (Land Berlin), sondern mit fast einer Stunde Verspätung auf dem Flughafen Berlin Schönefeld (Land Brandenburg). Austrian Airlines bot dem Fluggast weder einen Weitertransport noch die Übernahme der Kosten für die Beförderung von dem einen zu dem anderen Flughafen an.

Austrian Airlines macht geltend: Die bloße Umleitung zu einem nahe gelegenen Flughafen begründet keinen Anspruch auf eine pauschale Ausgleichszahlung in Höhe von 250, 400 oder 600 Euro.  Darüber hinaus sei die Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen, nämlich auf gravierende Wetterprobleme bei der Vorvorvorrotation des Flugzeugs.

Vorlagefragen des Landesgerichts Korneuburg:

  1. Ist Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass er auf zwei Flughäfen anzuwenden ist, die sich beide in unmittelbarer Nähe eines Stadtzentrums befinden, jedoch nur einer im Stadtgebiet, der andere im benachbarten Bundesland?
  2. Sind Art. 5 Abs. 1 Buchst. c, Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass im Fall einer Landung an einem anderen Zielflughafen desselben Ortes, derselben Stadt oder derselben Region ein Anspruch auf Ausgleichsleistung wegen Annullierung des Fluges zusteht?
  3. Sind Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass im Fall einer Landung auf einem anderen Flughafen desselben Ortes, derselben Stadt oder derselben Region ein Anspruch auf Ausgleichsleistung wegen großer Verspätung zusteht?
  4. Sind Art. 5, Art. 7 und Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass zur Ermittlung, ob ein Fluggast einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr im Sinne des Urteils vom 19. November 2009, Sturgeon u. a. (C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716), erlitten hat, die Verspätung derart zu berechnen ist, dass es auf den Zeitpunkt der Landung am anderen Zielflughafen ankommt oder auf den Zeitpunkt der Beförderung zu dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen oder zu einem sonstigen nahe gelegenen, mit dem Fluggast vereinbarten Zielort?
  5. Ist Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass sich das Luftfahrtunternehmen, das Flüge im Flugumlaufverfahren durchführt, auf ein Vorkommnis stützen kann, in concreto auf eine gewitterbedingte Reduzierung einer Anflugrate, das auf der Vorvorvorrotation des betroffenen Fluges eingetreten ist?
  6. Ist Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass das Luftfahrtunternehmen im Fall der Landung auf einem anderen Zielflughafen die Beförderung an einen anderen Ort von sich aus anbieten muss oder dass der Fluggast die Beförderung begehren muss?
  7. Sind Art. 7 Abs. 1, Art. 8 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass dem Fluggast wegen der Verletzung der in den Art. 8 und 9 normierten Unterstützungs- und Betreuungspflichten ein Anspruch auf Ausgleichsleistung zusteht?

Urteilstenor/Entscheidung des Gerichtshofs der EU:

  1. Art. 8 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass bei der Umleitung eines Fluges zu einem Flughafen, der dieselbe Stadt wie der in der ursprünglichen Buchung vorgesehene Zielflughafen bedient, die in dieser Bestimmung vorgesehene Übernahme der Kosten für die Beförderung des Fluggastes von dem einen zu dem anderen Flughafen nicht an die Voraussetzung geknüpft ist, dass der erste Flughafen am selben Ort, in derselben Stadt oder in derselben Region wie der zweite Flughafen liegt.
  2. Art. 5 Abs. 1 Buchst. c, Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 sind dahin auszulegen, dass ein Fluggast keinen Ausgleichsanspruch wegen Annullierung hat, wenn sein Flug umgeleitet wurde und er auf einem Flughafen gelandet ist, der zwar nicht dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen entspricht, aber denselben Ort, dieselbe Stadt oder dieselbe Region bedient. Der Fluggast eines zu einem Ausweichflughafen, der denselben Ort, dieselbe Stadt oder dieselbe Region wie der in der ursprünglichen Buchung vorgesehene Zielflughafen bedient, umgeleiteten Fluges hat jedoch grundsätzlich einen Ausgleichsanspruch nach dieser Verordnung, wenn er sein Endziel mindestens drei Stunden nach der vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ursprünglich vorgesehenen Ankunftszeit erreicht.
  3. Die Art. 5 und 7 sowie Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 sind dahin auszulegen, dass für die Ermittlung des Ausmaßes der Ankunftsverspätung, die ein Fluggast erleidet, dessen Flug umgeleitet wurde und der auf einem Flughafen gelandet ist, der zwar nicht dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen entspricht, aber denselben Ort, dieselbe Stadt oder dieselbe Region bedient, auf den Zeitpunkt abzustellen ist, an dem der Fluggast – nach Beendigung seiner Anschlussbeförderung – an dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen bzw. gegebenenfalls einem sonstigen nahe gelegenen, mit dem ausführenden Luftfahrtunternehmen vereinbarten Zielort tatsächlich ankommt.
  4. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ist dahin auszulegen, dass sich ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, um sich von seiner Pflicht zu befreien, Fluggästen bei erheblich verspäteter Ankunft ihres Fluges Ausgleichszahlungen zu leisten, auf einen außergewöhnlichen Umstand berufen kann, der nicht den verspäteten Flug, sondern einen vorangegangenen Flug betroffen hat, den es selbst mit demselben Flugzeug im Rahmen von dessen Vorvorvorrotation durchgeführt hat, sofern ein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten dieses Umstands und der erheblich verspäteten Ankunft des späteren Fluges besteht, was das vorlegende Gericht insbesondere unter Berücksichtigung des Betriebsmodus des betreffenden Flugzeugs durch das betreffende ausführende Luftfahrtunternehmen zu beurteilen hat.
  5. Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ist dahin auszulegen, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen dem Fluggast im Fall der Umleitung seines Fluges und dessen Landung auf einem Flughafen, der zwar nicht dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen entspricht, aber denselben Ort, dieselbe Stadt oder dieselbe Region bedient, die Übernahme der Kosten für die Beförderung zu dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen oder gegebenenfalls zu einem sonstigen nahe gelegenen, mit ihm vereinbarten Zielort von sich aus anbieten muss.
  6. Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ist dahin auszulegen, dass der Verstoß des ausführenden Luftfahrtunternehmens gegen seine Pflicht zur Übernahme der Kosten für die Beförderung eines Fluggastes vom Ankunftsflughafen entweder zu dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen oder zu einem sonstigen nahe gelegenen, mit dem Fluggast vereinbarten Zielort dem Fluggast keinen Anspruch auf eine pauschale Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung verleiht. Hingegen begründet dieser Verstoß einen Anspruch des Fluggastes auf Erstattung der von ihm aufgewendeten Beträge, die sich in Anbetracht der dem jeweiligen Fall eigenen Umstände als notwendig, angemessen und zumutbar erweisen, um das Versäumnis des Luftfahrtunternehmens auszugleichen.

Verfahrensart: Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV

Vorlegendes Gericht: Rayongericht Białystok, Polen

Thema: Grenzüberschreitender Rechtsstreit zwischen einem Gewerbetreibenden, an den die Forderung einer Geschädigten eines Verkehrsunfalls gegen ein Versicherungsunternehmen abgetreten wurde, und diesem Unternehmen (gerichtliche Zuständigkeit ?), insbesondere

Gerichtliche Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Zuständigkeit für Versicherungssachen – Art. 10 – Art. 11 Abs. 1 Buchst. a – Bei Klagen des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten bestehende Möglichkeit, den in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Versicherer in einem anderen Mitgliedstaat vor dem Gericht des Ortes zu verklagen, an dem der Kläger seinen Wohnsitz hat – Art. 13 Abs. 2 – Unmittelbare Klage des Geschädigten gegen den Versicherer – Persönlicher Anwendungsbereich – Begriff ‚Geschädigter‘ – Gewerbetreibender im Versicherungssektor – Besondere Zuständigkeiten – Art. 7 Nrn. 2 und 5 – Begriffe ‚Zweigniederlassung‘, ‚Agentur‘ oder ‚sonstige Niederlassung‘“

Parteien: CNP spółka z ograniczoną odpowiedzialnością (Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz in Polen) gegen Gefion Insurance A/S (Versicherungsgesellschaft mit Sitz in Dänemark)

Mit Schreiben vom 25. Juni 2018 forderte die polnische Firma CNP die dänische Firma Gefion auf, ihr den für die Miete des Ersatzfahrzeugs in Rechnung gestellten Betrag zu zahlen.

Sachverhalt: Im Februar 2018 kam es in Polen zu einem Verkehrsunfall, bei dem zwei Fahrzeuge  zusammenstießen. Der Unfallverursacher hatte einen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsvertrag mit der dänischen Firma Gefion Insurance A/S  abgeschlossen, einer Versicherungsgesellschaft mit Sitz in Dänemark. Am 1. März 2018 mietete die Geschädigte gegen Entgelt ein Ersatzfahrzeug von der Reparaturwerkstatt, die ihr beschädigtes Fahrzeug reparieren sollte. Zur Begleichung der Miete trat die Geschädigte die Forderung gegen Gefion an die Reparaturwerkstatt ab. Am 25. Juni 2018 trat dann die Reparaturwerkstatt diese Forderung an die CNP (Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz in Polen ab.

Im August 2018 erkannte die polnische und von Gefion mit der Regulierung des Schadens beauftragte Firma Crawford Polska sp. z o.o., die Rechnung über die Miete des Ersatzfahrzeugs nur teilweise an teilte in einem Schreiben mit, dass gegen Gefion „nach den Vorschriften über die allgemeine Zuständigkeit oder vor dem Gericht des Wohnsitzes oder des Sitzes des Versicherungsnehmers, des Versicherten, des Begünstigten bzw. des Berechtigten aus dem Versicherungsvertrag“ Klage erhoben werden könne.

Am 20. August 2018 erhob CNP gegen Gefion Klage beim Sąd Rejonowy w Białymstoku (Rayongericht Białystok, Polen).

Im Dezember 2018 erließ dieses Gericht einen Zahlungsbefehl gegen den Gefion Einspruch einlegte. Die polnischen Gerichte seien für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht zuständig.

  1. Ist Art. 13 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 10 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass für Klagen eines Unternehmers gegen ein  Haftpflicht‑Versicherungsunternehmen wegen eines vom Geschädigten erworbenen Haftpflichtschadensersatzanspruchs die Zuständigkeit des Gerichts nach Art. 7 Nr. 2 bzw. Art. 7 Nr. 5 der Verordnung nicht ausgeschlossen ist?
  2. Ist – wenn die erste Vorlagefrage bejaht wird – Art. 7 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass eine in einem Mitgliedstaat tätige Gesellschaft des Handelsrechts, die Sachschäden im Rahmen der Kfz-Haftpflichtversicherung aufgrund eines mit einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Versicherungsunternehmen geschlossenen Vertrags reguliert, als eine Zweigniederlassung, eine Agentur oder eine sonstige Niederlassung dieses Versicherungsunternehmens anzusehen ist?
  3. Ist – wenn die erste Vorlagefrage bejaht wird – Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass er eine selbständige Zuständigkeitszuweisung an das Gericht in dem Mitgliedstaat, in dem das schadensbegründende Ereignis stattgefunden hat, enthält, bei dem ein Gläubiger, der einen Haftpflichtschadensersatzanspruch vom Geschädigten erworben hat, gegen ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiges Versicherungsunternehmen Klage erhebt?

Urteilstenor/Entscheidung des Gerichtshofs:

  1. Art. 13 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist in Verbindung mit Art. 10 dieser Verordnung dahin auszulegen, dass er im Fall eines Rechtsstreits zwischen einem Gewerbetreibenden, der eine Forderung erworben hat, die ursprünglich einem Geschädigten gegen ein Haftpflichtversicherungsunternehmen zustand, und dem betreffenden Haftpflichtversicherungsunternehmen nicht anwendbar ist und es daher nicht ausschließt, dass die gerichtliche Zuständigkeit für einen solchen Rechtsstreit gegebenenfalls auf Art. 7 Nr. 2 oder auf Art. 7 Nr. 5 dieser Verordnung gestützt wird.
  2. Art. 7 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 ist dahin auszulegen, dass eine Gesellschaft, die in einem Mitgliedstaat aufgrund eines Vertrags mit einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Versicherungsunternehmen in dessen Namen und für dessen Rechnung eine Tätigkeit der Schadensregulierung im Rahmen der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung ausübt, als Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist, wenn diese Gesellschaft auf Dauer als Außenstelle des Versicherungsunternehmens hervortritt und eine Geschäftsführung hat und sachlich so ausgestattet ist, dass sie in der Weise Geschäfte mit Dritten betreiben kann, dass diese sich nicht unmittelbar an das Versicherungsunternehmen zu wenden brauchen.

Verfahrensart: Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV

Vorlegendes Gericht: Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich)

Thema: Gerichtliche Zuständigkeit für die Entscheidung über einen Scheidungsantrag, Begriff des  „gewöhnlichen Aufenthalts“ eines Ehegatten, insbesondere

Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Zuständigkeit für die Entscheidung über einen Scheidungsantrag – Art. 3 Abs. 1 Buchst. a – Begriff ‚gewöhnlicher Aufenthalt‘ des Antragstellers

Parteien: IB gegen FA

Sachverhalt: Die Ehe des französischen Staatsangehörigen IB und seiner Frau FA, die die irische Staatsangehörigkeit besitzt, wurde 1994 in Bray (Irland) geschlossen. Sie haben drei volljährige Kinder.

Am 28. Dezember 2018 reichte IB beim Tribunal de grande instance de Paris (Landgericht Paris, Frankreich) eine Scheidungsklage ein.

Mit Beschluss vom 11. Juli 2019 erklärte sich der mit der Sache befasste Familienrichter zur Entscheidung über die Scheidung der Ehegatten für örtlich unzuständig. Die bloße Festlegung des Arbeitsorts von IB in Frankreich reiche nämlich nicht aus, um dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen.

Gegen diesen Beschluss legte IB bei der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) Berufung ein. IB machte geltend,  dass er seit dem Jahr 2010 sowie seit Mai 2017 dauerhaft und beständig seine beruflichen Tätigkeiten in Frankreich ausübe, wo er sich in einer seines Vaters niedergelassen habe. Er führe dort ein gesellschaftliches Leben. Seine Frau hätte sich geweigert nach Frankreich zu ziehen, wäre jedoch  regelmäßig in die Pariser Wohnung gekommen oder hätte sich in dem 2017 erworbenen Ferienhaus aufgehalten.

FA trägt u.a. vor, es sei nie beabsichtigt worden, dass sich die Familie in Frankreich niederlasse. Der gewöhnliche Aufenthalt der Familie befinde sich daher in Irland. IB habe nie seinen Aufenthalt geändert, sondern nur die Adresse seines Arbeitsortes.

Die Cour d’appel de Paris ist der Auffassung, dass die Verbindung von IB zu Irland allerdings eine Verbindung zu Frankreich nicht ausschließe. IB würde seit 2017 jede Woche zur Arbeit zurückkehren. IB hätte tatsächlich an zwei Orten einen Aufenthalt, aus familiären Gründen in Irland und seit vielen Jahren aus beruflichen Gründen in Frankreich. Folglich sei die Verbindung von IB zu Frankreich weder gelegentlich noch umstandsbezogen.

Hieraus zog das vorlegende Gericht den Schluss, dass die irischen und die französischen Gerichte gleichermaßen zur Entscheidung über die Scheidung der betroffenen Ehegatten zuständig seien.

Der Grundsatz, dass derselbe Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit in zwei Mitgliedstaaten erfüllt sein kann, sei vom Gerichtshof im Urteil vom 16. Juli 2009, Hadadi (C‑168/08, EU:C:2009:474), aufgestellt worden. Dabei ging es jedoch um die Anwendung des Kriteriums der Staatsangehörigkeit, das objektiv definiert sei und darauf hinauslaufe, dass beide Ehegatten Staatsangehörige zweier Mitgliedstaaten sein könnten. Im vorliegenden Verfahren ginge es jedoch um den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts, dessen Definition selbst einer Auslegung bedürfe. Nach Ansicht der Cour d’appel de Paris ist der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 ein autonomer Begriff des Unionsrechts, der der Auslegung durch den Gerichtshof bedürfe.

Vorlagefrage:

Wenn sich aus dem Sachverhalt ergibt, dass einer der Ehegatten sein Leben in zwei Mitgliedstaaten verbringt, kann dann im Sinne des Art. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 und für dessen Anwendung davon ausgegangen werden, dass er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in zwei Mitgliedstaaten hat, so dass die Gerichte beider Mitgliedstaaten gleichermaßen zur Entscheidung über die Scheidung zuständig sind, wenn die in diesem Artikel genannten Voraussetzungen in diesen Mitgliedstaaten erfüllt sind?

Urteilstenor/Entscheidung des Gerichtshofs:

Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass ein Ehegatte, der sein Leben in zwei Mitgliedstaaten verbringt, seinen gewöhnlichen Aufenthalt nur in einem dieser Mitgliedstaaten haben kann, so dass allein die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich dieser gewöhnliche Aufenthalt befindet, für die Entscheidung über den Antrag auf Auflösung der Ehe zuständig sind.


Vorlegendes Gericht: Kollegialgericht erster Instanz Athen

Thema:

Umfang des Verbraucherschutzes bei einem Vertrag über ein in Fremdwährung (hier: Schweizer Franken) rückzahlbares Darlehen, insbesondere

Richtlinie 93/13/EWG – Missbräuchliche Klauseln – Art. 1 Abs. 2 – Vertragsklauseln, die auf bindenden Rechtsvorschriften beruhen – Ausschluss vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie – In Fremdwährung rückzahlbares Darlehen – Klausel, die auf einer abdingbaren nationalen Vorschrift beruht – Auswirkung der unterbliebenen Umsetzung dieses Art. 1 Abs. 2 – Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 – Überprüfung der Missbräuchlichkeit einer Klausel – Art. 8 – Erlass oder Beibehaltung nationaler Bestimmungen, die ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher gewährleisten – Wechselwirkung zwischen diesen verschiedenen Bestimmungen der Richtlinie 93/13“

Parteien: DP und SG (Privatpersonen) gegen Trapeza Peiraios AE (griechische Bank)

Sachverhalt: Im Jahr 2004 schlossen zwei Verbraucher mit der griechischen Bank Trapeza Peiraios einen Immobiliendarlehensvertrag, der ursprünglich auf Euro lautete. Im Jahr 2007 unterzeichneten die Parteien zwei Zusatzvereinbarungen zu diesem Vertrag, um die zunächst gewählte Währung durch den Schweizer Franken (CHF) zu ersetzen.

Am 17. September 2018 erhoben diese Verbraucher beim Polymeles Protodikeio Athinon (Kollegialgericht erster Instanz Athen, Griechenland) Klage auf Feststellung der Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln, nach denen die Darlehenstilgung entweder in CHF oder im Gegenwert in Euro zu dem Wechselkurs vorzunehmen war, der zum Zeitpunkt der Zahlung der Monatsraten oder des bei Auflösung des Darlehensvertrags ausstehenden Restbetrags galt.

Vorlagefragen des Kollegialgerichts erster Instanz Athen:

  1. Gestattet es Art. 8 der Richtlinie 93/13, wonach die Mitgliedstaaten strengere Bestimmungen erlassen können, um ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher zu gewährleisten, einem Mitgliedstaat, Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 nicht in sein nationales Recht umzusetzen und somit die gerichtliche Kontrolle auch von Klauseln zuzulassen, die auf bindenden oder abdingbaren Rechtsvorschriften beruhen?
  2. Kann davon ausgegangen werden, dass Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 1 und 2 der Richtlinie 93/13, obwohl er nicht ausdrücklich in das griechische Recht umgesetzt wurde, in dieses dennoch mittelbar Eingang gefunden hat, und zwar aufgrund des in Art. 2 Abs. 6 des Gesetzes 2251/1994 umgesetzten Inhalts von Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der genannten Richtlinie?
  3. Ist im Begriff der in Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 geregelten missbräuchlichen Klauseln und ihrer Tragweite die Ausnahmeregelung des Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 1 und 2 der Richtlinie 93/13 enthalten?
  4. Erfasst die Prüfung der Missbräuchlichkeit einer allgemeinen Vertragsbedingung im Sinne der Richtlinie 93/13 die in einem Kreditvertrag zwischen einem Verbraucher und einem Kreditinstitut enthaltene Bedingung, die den Inhalt einer Regelung des dispositiven Rechts des Mitgliedstaats wiedergibt, wenn diese Bedingung nicht gesondert ausgehandelt wurde?

Urteilstenor/Entscheidung des Gerichtshofs:

  1. Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen ist dahin auszulegen, dass er vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie eine Klausel in einem Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher ausschließt, die auf einer nationalen Rechtsvorschrift beruht, die abdingbar ist und in Ermangelung einer anderen Vereinbarung zwischen den Parteien von Gesetzes wegen gilt, selbst wenn diese Klausel nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde.
  2. Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 ist dahin auszulegen, dass die von ihm erfassten Klauseln auch dann vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind, wenn diese Bestimmung nicht formell in die Rechtsordnung eines Mitgliedstaats umgesetzt worden ist, und dass in einem solchen Fall die Gerichte dieses Mitgliedstaats nicht davon ausgehen können, dass Art. 1 Abs. 2 dadurch mittelbar Eingang in das nationale Recht gefunden hat, dass Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie umgesetzt worden sind.
  3. Art. 8 der Richtlinie 93/13 ist dahin auszulegen, dass er dem Erlass oder der Beibehaltung innerstaatlicher Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die zur Folge haben, dass das Verbraucherschutzsystem der Richtlinie auf die von ihrem Art. 1 Abs. 2 erfassten Klauseln angewandt wird.